Gewissenskonflikt bei der Pflege im Kloster

Sr. Paula Helm OSB

Unser Kloster ist ein begrenzter Lebensraum, in dem wir Schwestern im Idealfall vom Klostereintritt bis zum Tod bleiben. Als Krankenschwester habe ich Verschiedenes erlebt, zufriedene Sterbende und verzweifelte Kranke, die an Suizid dachten. Von meinen Erfahrungen und von einem Gewissenskonflikt will ich hier berichten.

Meinem jüngsten Bruder verdanke ich die erste Hinführung zu den Fragen, mit denen ich bei der Pflege meiner kranken Mitschwestern konfrontiert wurde. Er kam mit Down-Syndrom auf die Welt. Durch meinen Bruder lernte ich Kinder kennen, die wir Geschwister „kleine Spastiker“ nannten. Eines dieser Kinder war Kerstin, die seit ihrer Geburt künstlich ernährt wurde. Sie beobachtete gerne Tiere und war körperlich und geistig behindert. Ich lernte Anna kennen, die ein bisschen essen konnte, aber nicht genug, um ohne künstliche Ernährung zu leben. Mit Klopfzeichen teilte Anna uns mit, dass die altersgemäßen Hörbücher ihr gefielen. In der Krankenpflegeschule hatte ich später gelernt, dass passive Sterbehilfe bedeutet: „Unterlassen darf man.“ Ich wusste auch: Einem Menschen das Sterben nicht erlauben, das ist genauso ein Nein zum Willen Gottes wie das Töten.

VERUNSICHERUNG

Die Pflege meiner kranken Mitschwestern ist seit 1991 meine Aufgabe im Kloster. Die Pflege von Sr. Rita (88 Jahre) [alle Namen in diesem Artikel sind geändert] sorgte bei mir für eine Verunsicherung. Sie wurde künstlich ernährt. Wegen Schluckstörungen nach einem Schlaganfall und weil sie so viel Schlaf brauchte, konnte sie kaum noch normal essen. Nur am Nachmittag war sie wach. Da konnte ich sie in den Rollstuhl setzen und mit ihr kleine Ausflüge machen. Sprechen konnte sie nicht mehr, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie ihre Mitschwestern erkannte. Wenn ich ihr Wäschestapel zum Transportieren auf den Schoß lud, strahlte sie. Etwa eine Stunde hielt sie es im Rollstuhl aus. Danach war sie müde und schlief bis zum nächsten Nachmittag.

Bei einer Fortbildung hatte ich gelernt, dass die künstliche Ernährung eine Behandlung ist und dass sie, wie jede Behandlung, abgebrochen werden darf. Jetzt stand ich am Bett von Sr. Rita. Mir war klar, dass alles, was ich bei der Fortbildung über das Abbrechen der künstlichen Ernährung gelernt hatte, mit dem übereinstimmte, was ich bei der Ausbildung im katholischen Krankenhaus gelernt hatte. Trotzdem war da etwas, was mich unruhig machte. Immer wieder dachte ich: Wenn ich jetzt bei Sr. Rita die Ernährung abbreche, dann gebe ich denen Recht, die meinem behinderten Bruder das Lebensrecht absprechen.

Foto: Privat, Sr. Paula Helm OSB und ihr Bruder

Wir sprachen darüber in der Gemeinschaft. Wiederholt hörte ich von Mitschwestern: „Ich will selber nie künstlich ernährt werden, aber jetzt die Ernährung abbrechen, das geht nicht.“ Warum? Ich war verunsichert. In einer Sendung von Radio Vatikan hörte ich: „Aktive Sterbehilfe ist verboten, passive Sterbehilfe ist erlaubt.“ Ich fragte mich: „Passive Sterbehilfe – unterlassen darf man – gilt das auch für Kerstin und für Anna, die heute erwachsen sind?“ Ich war verunsichert. Der Gewissenskonflikt begleitete mich drei Jahre lang.

STERBEBEGLEITUNG

Bei Kranken, die nicht mehr sprechen können, haben wir Krankenschwestern große Mitverantwortung. Denn es gibt Situationen, in denen ein Anruf den Notarzt gleich zu therapeutischem Übereifer verpflichtet. Sr. Rita hatte kaum ein Jahr mit der künstlichen Ernährung gelebt. Plötzlich verschlechterte sich ihr Zustand. Die künstliche Ernährung unterbrachen wir sofort – sie hätte jetzt nur noch Erbrechen ausgelöst. Nun war intensive Pflege notwendig. Es folgten einige Tage, in denen wir bei jedem Medikament nachfragten, ob ihr das jetzt noch nützt. Nach einigen Tagen der Unsicherheit und des Ringens war allen klar, dass Sr. Rita im Sterben lag. Jetzt wurden alle Maßnahmen, die ihr Sterben nur verlängert hätten, abgebrochen. Wie bei jeder sterbenden Mitschwester wachten wir abwechselnd bei ihr, Tag und Nacht. Meine Aufgabe endet erst, wenn die verstorbene Mitschwester mit Ordenskleid und Schleier im Sarg liegt. Unsere Gartenschwester schmückt die Verstorbene liebevoll mit vielen Blumen. Damals schafften wir Pflege und Sterbebegleitung noch allein. Heute sind wir Sozialstation, Betreuungsdienst und Hospizhelfern dankbar für jede Unterstützung.

VERSCHIEDENE DEFINITIONEN VON PASSIVER STERBEHILFE

Die Unsicherheit wegen des Abbrechens der künstlichen Ernährung ließ mich nicht los, bis ich entdeckte, dass Theologen, Ärzte und Juristen das gleiche Wort „passive Sterbehilfe“ verschieden definieren. Ich hatte in meinem medizinischen Denken einen „blinden Fleck“. Mir fehlte das, was in „Leben in Fülle“ „passive direkte Sterbehilfe“ oder „passive Euthanasie“ genannt wird. Diese „meint die Tötung eines Menschen durch gezielte Unterlassung von lebensrettenden Maßnahmen“. Die künstliche Ernährung abbrechen bei behinderten Menschen wie Kerstin und Anna, das ist nach dem mir vertrauten medizinischen Denken erlaubte passive Sterbehilfe und gleichzeitig nach der christlichen Definition passive Euthanasie, die immer abzulehnen ist! („Leben in Fülle“ ist die wirklich hilfreiche Leitlinie der österreichischen Bischofskonferenz für katholische Einrichtungen im Dienst der Gesundheitsfürsorge aus dem Jahr 2006.)

Von der christlichen Überlieferung habe ich gelernt, dass jeder Mensch so kostbar ist, dass nur Gott über Leben und Tod des Menschen entscheiden darf. Erlaubte indirekte passive Sterbehilfe bedeutet christlich verstanden: aufgrund der Überzeugung, dass Gott einen Menschen jetzt aus diesem Leben ruft, auf jeden therapeutischen Übereifer verzichten.

Seither begleitet mich die Frage, wie es zu den verschiedenen Definitionen kommen konnte. Kann es sein, dass im Mittelalter die in den Klöstern überlieferten, auf Gott bezogene Definitionen der Sterbehilfe an den jungen Universitäten wissenschaftlich neu formuliert wurden, und dass es dabei zu einem „Übersetzungsfehler“ gekommen ist? Kann es sein, dass dieser „Übersetzungsfehler“ ohne Auswirkungen blieb bevor in der Neuzeit neue Techniken wie Beatmung, Dialyse oder künstliche Ernährung begonnen und wieder abgebrochen werden konnten? Kann es sein, dass der „blinder Fleck“ in meinem Denken genauso wie die verschiedenen Definitionen der passiven Sterbehilfe eine Folge dieses uralten „Übersetzungsfehlers“ sind?

PATIENTENVERFÜGUNG

Den „blinden Fleck“, den ich aus meinem eigenen Denken kannte, fand ich auch in der gesetzlichen Regelung zur Patientenverfügung, die im Jahr 2009 in Deutschland verabschiedet wurde. Diese gilt „unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung“ (§ 1901a Abs. 3 BGB). Jeder in einer Patientenverfügung festgelegte konkrete Wunsch zur Unterlassung muss umgesetzt werden, auch wenn durch diese Unterlassung der Tod des Verfügenden wissentlich oder absichtlich herbeigeführt wird. Dass eine Patientenverfügung unbedingt nötig ist, um therapeutischen Übereifer zu verhindern, das hatte ich durch bittere Erfahrungen bei der Begleitung meiner Mitschwestern gelernt. Allerdings war in keiner der 2009 angebotenen gültigen Patientenverfügungen der christliche Weg wählbar, der sowohl auf therapeutischen Übereifer als auch auf Töten durch Behandlungsabbruch verzichtet. Heute arbeite ich mit der „Patientenverfügung mit Entscheidungshilfen“, die ich damals ausgearbeitet habe. In dieser ist der christliche Weg wählbar.

Hausärzte sagen mir, dass sie mit den Formulierungen, die in diesem Formular stehen, gut arbeiten können. Das dürfte daran liegen, dass hinter den Formulierungen eigene, oft leidvolle Erfahrungen stehen. Das Formular kann hier vom Internet heruntergeladen werden.

SUIZIDBEIHILFE IST KEINE LÖSUNG

In dieser „Patientenverfügung mit Entscheidungshilfen“ ist Suizidbeihilfe abgelehnt mit dem Satz: „Wenn ich so verzweifelt bin, dass ich nur noch sterben will, soll die Ursache meiner Verzweiflung behandelt werden.“ Bei dieser Formulierung habe ich vor allem an Sr. Sara und an Sr. Thea gedacht. Sr. Sara gehört zu den Mitschwestern, an die ich mich mit großer Achtung erinnere. Ihre Liebe zum Gebet, ihre Einsatzbereitschaft und ihr Lebensmut haben mich beeindruckt. Sie hatte viele chronische Erkrankungen. Einmal hatte sie sehr starke Schmerzen. Die verordneten Medikamente halfen nicht. An einem Morgen, früh um 6.00 Uhr, bat sie mich, Sterbehilfe zu machen „aus Mitleid“. Ihre Begründung war: „Ich kann nicht mehr.“ Unser Hausarzt schickte Sr. Sara ins Krankenhaus. Am nächsten Tag ging es ihr besser, sie war fast schmerzfrei. Im Gespräch zeigte sich, dass sie von Sterbehilfe nichts mehr wissen wollte. Zwei Tage später feierte sie begeistert ihren 88. Geburtstag. Über den Besuch ihres Neffen hat sie sich besonders gefreut.

Bei einem Vortrag habe ich von Sr. Saras Bitte um Sterbehilfe erzählt. Einer der Zuhörer, ein junger Krankenpfleger, antwortete mir in scharfem Ton: „Sie haben ihr Selbstbestimmungsrecht nicht geachtet!“ Diese Sicht kann ich nicht verstehen. Schmerzen, Depression oder Diagnoseschock, das sind Situationen, in denen man total unter Druck steht, Situationen, die die Entscheidungsfreiheit genauso einschränken wie Folter.

Sr. Thea sprach oft vom Suizid. Als ich in unser Kloster eintrat, erlebte ich sie als kleine alte Schwester, die nie lachte. Zur Heiligen Messe kam sie. Sonst zog sie sich total zurück. Jahrelang sagte sie mir immer wieder: „Ich würde Selbstmord machen, wenn das nicht verboten wäre.“ Und sie erzählte von ihrer harten, von Hunger und Krieg geprägten Kindheit. Sr. Thea bekam Medikamente gegen Depression. Wegen ihrer langsam fortschreitenden Demenz hat sie dreizehn Jahre lang die Hilfe von uns Krankenschwestern gebraucht. Es war wirklich nicht einfach mit ihr. Unmerklich hat sie sich im Lauf der Jahre verändert. In ihrem letzten Lebensjahr, mit 87, war sie nicht nur zufrieden, sondern voll ansteckender Lebensfreude. Die Heilige Messe war ihr überaus wichtig. Als sie ins Krankenhaus musste, sagte eine Krankenschwester zu mir: „Die lacht ja immer. Das steckt richtig an.“ Sofort war sie der Liebling der ganzen Station. Zehn Minuten vor ihrem Tod sagte sie auf die Frage, wie es ihr gehe, einfach: „Gut!“

Die Ansicht, dass sich aus dem Selbstbestimmungsrecht oder aus der Menschenwürde ein Recht auf Suizid ableiten lässt, kann ich nicht nachvollziehen. Ein Suizid hätte ihr doch jede Chance zur Selbstentfaltung genommen. Wenn ich heute harte Situationen erlebe, denke ich an Sr. Thea. Von ihr habe ich gelernt, dass ich keinen Menschen aufgeben darf.

DER GEDANKE, ZU TÖTEN

Bei meiner Arbeit ist mir ein anderer Zusammenhang zwischen Freiheit und Sterbehilfe aufgefallen: Der Gedanke, eine Kranke durch eine Überdosis von Schmerzmitteln zu töten, der kommt einfach, auch bei mir, der Ordensschwester. Aber dieser Gedanke kommt nicht, wenn es einer der Kranken schlecht geht. Er kommt, wenn ich selber körperlich oder psychisch total am Ende bin. Dann ist die Überzeugung in mir, dass die Kranke, die ich gerade pflege, genau wie ich total am Ende ist und ihr Lebensende herbeisehnt.

Und jedes Mal war da in mir der Gedanke: „Wenn ich einmal die Grenze überschreite und töte, wird das ein Dammbruch. Dann werde ich nicht mehr fähig sein, einen natürlichen Sterbeprozess auszuhalten. Mein Töten würde zur Sucht.“ In diesen Situationen sage ich mir den Satz: „Die Entscheidung über Leben und Tod steht mir nicht zu.“ Sobald es mir selber besser geht, bin ich wieder fähig, zwischen meinem Empfinden und dem der Kranken zu differenzieren. So habe ich das fünfte Gebot, das mir das Töten verbietet, als Garant meiner Freiheit erlebt.

DEMENZKRANKE BEGLEITEN

Die harten Jahre des Alters habe ich wiederholt als Chance zur Reifung für die Kranken erlebt. Diese Reifung wollte ich unterstützen. Aber wie? Ist das bei Demenzkranken überhaupt möglich? Seit einigen Jahren mache ich es so: Ich beobachte die Kranke, bis ich bei ihr ein Thema entdecke, das ihr Freude macht, zum Beispiel Vögel, Blumen, die Heilige Messe oder das Gebet. Es muss ein Thema sein, das nicht mir, sondern der Kranken wichtig ist. Die Suche danach dauert manchmal sehr lang. Wenn ich dieses Thema gefunden habe, reden wir jeden Tag darüber, verbal oder nonverbal. Bei Demenzkranken sind das immer die gleichen Gespräche.

Jede Kranke, bei der ich ein solches Thema für diese täglichen Gespräche gefunden habe, hat sich positiv verändert. Das braucht viel Geduld, denn sichtbar wird die Veränderung oft erst nach Jahren. Was ich sofort merke, ist, dass ich selber mehr Kraft und Geduld habe, um die weniger positiven Eigenschaften der Kranken zu ertragen. Ich glaube, genauso kostbar wie das Scherflein der Witwe (Lk 21,1ff.) ist in den Augen Jesu das Gebet der Demenzkranken. Vielleicht lässt Gott manche langen Leidenswege zu, weil das Gebet dieser Kranken so wichtig ist.

BIOGRAMM

Sr. Paula Uta Helm OSB, geb. 1965; 1985 Abitur in Neuss, 1988 Krankenpflegeexamen in München; seit 1988 Benediktinerin in der Abtei St. Gertrud in Tettenweis.

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